Momente der Stille und eine fast brachiale Urgewalt
Die Künstlerin spielte sich und das Publikum nahezu in einen Rausch
VON WERNER ZWARTE
RYSUM – Es hat etwas Rituelles, wenn Kathrin Haarstick in ihrem Rysumer Fuhrmannshof vor erwartungsvollem Publikum die Kerzen am mannshohen Kandelaber anzündet und das Glöckchen erklingen lässt. Am Sonnabend war die vielfach preisgekrönte Pianistin Meryem Akdenizli zu Gast und bot unter dem Titel „Weltklassik am Klavier – in 80 Minuten durch die Epochen“ ein ausgezeichnetes Klavierkonzert.
„Beginnen wir mit dem Barock“, erläuterte die Künstlerin und erklärte mit musikalischen Beispielen die Improvisation an einigen Ausschnitten aus Johann Sebastian Bachs „Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll BWV 903“. Faszinierend im Gesamtwerk waren die musikalischen Nebenschauplätze mit ausgeprägtem filigranen
Charakter. Mit Joseph Haydns „Sonate Es-Dur Hob. XVI Nr. 52“ schuf Akdenizli im Allegro extreme Situationen von Emotionen zwischen den Momenten der stillen Tiefe und der fast brachialen Urgewalt. Die Künstlerin umschmeichelte den Flügel und las ihm im nächsten Augenblick voll temperamentvoller Hingabe die Leviten – Momente musikalischer Metaphern. Adagio und Presto machten die Klassik in all’ ihrer Sensibilität und ihrem Sturm und Drang deutlich.
Der romantische Teil wurde eingeleitet mit Frédéric Chopins 11. Etüde, dem „Allegro con brio, a-Moll“. Mit Maurice Ravels „Ondine“ aus „Gaspard de la Nuit” wich die Ruhe dem Sturm, kaum spürbarer Rhythmus brachte Ordnung und Frieden ins Spiel – eine meisterliche Kunst der Pianistin, die das Publikum quasi mit auf die Reise nahm, um es an ihrem musikalischen Leben teilhaben zu lassen. Äußerst gelungen war das.
Dem Komponisten Franz Liszt, einer der wohl größten Pianisten, die es je gegeben hat, galt das Finale des Konzertes: Die Rhapsodie espagnole, Variationen über „Folies d’Espagna“ und „Jota Aragonese“ bildeten ein wahres Feuerwerk der Virtuosität am Flügel. Die Künstlerin spielte sich und das Publikum nahezu in einen Rausch. Und wenn dann noch das Ambiente mit dem rustikalen Mauerwerk und dem urigen Holzgewölbe des Hofes ein Ganzes für dieses musikalische Erlebnis bilden, dann stimmt auch die leise Bewegung des samtenen Vorhanges durch leichten Windzug bei Chopins beruhigender Zugabe über das Mädchen mit den blonden Haaren.
Dieses Erzählkonzert wird vielen Zuschauern haften bleiben. Der große Beifall und die beiden Zugaben
zeigten: Dieser späte Sonnabendnachmittag bot nicht nur Weltklassik sondern auch Weltklasse. So geschehen in Rysum!
Quelle: Ostfriesenzeitung vom 31.8.2010 – von Werner Zwarte